22 Oktober, 2013

GR-20 - Teil 6 - Vizzavona nach Capannelle

Ich habe das Glück, immer dann zu verreisen, wenn andere damit schon fertig sind. Ich fahre nie zur Hochsaison in den Urlaub. Mir gefallen Menschenmengen selbst bei Konzerten nur mäßig. Mir gefallen Menschenmengen auf Wanderwegen überhaupt nicht. Es stellt sich einfach keine Klarheit ein, wenn der Weg voll ist von Meinungen und menschlichem Geräusch.

Schatz, wir müssen nicht reden
Nachdem ich mich von Gustav auf dem Nordteil des GR-20 getrennt habe und mit dem Zug nach Vizzavona gefahren bin, übernachte ich dort im Refuge. Das, weil bewirtet, Geld kostet. 19 Euro für eine Übernachtung, die ich ungern ausgebe. Netter Wirt (der mir erlaubt, ein paar Sachen da zu lassen), lauwarme Dusche, warmes Zimmer und ich esse im sterilen Essenssaal, weil es keine Möglichkeit gibt, mein mitgebrachtes Essen zu kochen. Highlight des Abends: ein Bier! Ein kaltes Bier! Interessant: nur ein paar Tage fern der Zivilisation und schon vertrage ich nix mehr. Um zehn gehe ich völlig angeschickert in die Heia.

Refuge de Vizzavona - wer schnell wandert, wandert einfach vorbei
Am nächsten Morgen breche ich auf in Richtung Refuge de Capannelle, eine einfache Strecke, die trotzdem hammerschön ist. Ich sehe die Sonne auf den Berggipfeln am Morgen und grüße sie freundschaftlich (ja, wenn man alleine wandert, spricht man auch schonmal mit einem Berg).

Good morning sun, I am a bird, wearing a brown polyester shirt...
Ich lächle, weil ich einen Weg entlang laufe, der aussieht wie ein Weg. Ein Waldweg, der auch im Harz sein könnte. Fast bin ich schon gelangweilt davon, dass nichts mich zum Klettern, Springen, Abstützen, Hochziehen oder zumindest Drübersteigen auffordert, als es vom befestigten Weg in den Wald geht.

Herrlich! Wurzeln zum Stolpern! Tannennadeln zum Riechen! Mehr Morgensonne, die mich bezaubert.

Ich bin fit, merke ich. Die Strapazen der letzten Tage haben aus mir eine belastbarere Person gemacht. Ich fühle keinen Muskelschmerz, sondern Stärke in Armen und Beinen. Meine Schulter hat aufgehört, weh zu tun. Mein Osteopath wäre stolz auf mich. Der Morgen macht alles wett, was die Tour im Norden an Angst und Beklemmungen mit sich brachte.

Auf dem Weg nach Lothlórien
Tag 6 des GR-20 ist ein magischer Tag. Ich laufe durch einen Birkenwald, in dem Elfenvolk lebt, passiere versteinerte Orks und gerate in lautstarke Bewunderung, als ich die Hobbitbehausungen bei den Bergeries d'Alzeta sehe. Ich glaube, meine exakten Worte sind: "Alter. Das kann ja nicht wirklich wahr sein!"

The Shire. Ach nee, die Bergeries d'Alzeta.
Ein einäugiger steinerner Wächter
Die Aussicht des steinernen Wächters
Bocca Palmentu, über den Wolken
The Martians have landed!
Gipfelblick = Meerblick
Der Tagesgipfel auf dieser Strecke ist die Bocca Palmentu mit 1.640 Meter Höhe. Und weil ich meinen Bruder vermisse und er die Snackbeutel so schön gepackt hat, mache ich Pause auf der windgepeitschten, außerirdisch anmutenden Berglandschaft auf dem Gipfel. Und schamlos Schleichwerbung für REWE.


Die gesamte Strecke, obwohl sehr gut zu laufen, sind 15 km, 890 Höhenmeter hoch und 224 wieder runter. Nach dem windigen Gipfelpass, der einen schön durchgeschüttelt hat, geht es am Rande des Berges in der warmen Sonne über wunderschöne Bäche bis zum Refuge de Capannelle.

GR-20, seit 6 Millionen Jahren (theoretisch) begehbar
Le petit refuge de Capannelle
Kleine Notiz am Ende: das Refuge ist schwer zu finden. Die Beschilderung endet am Riesenkomplex der Gite U Fugone. Die Gites auf dem GR-20 sind Ausweichmöglichkeiten für Wanderer, wenn die Refuges voll sind. U Fugone erinnert mich an ein verlassenes Berghütten-Disneyland. Ein Riesenkomplex mit Skilift und Vergehen an der Natur. Wie beim Lac de Muvrella fühlt man noch die Flut der Sommerwanderer in der verwahrlosten Umgebung. Die eigentliche Hütte ist miniklein, hat nur Platz für 12 Schläfer und befindet sich hier:
Weiße Pfeile: Wanderrichtung GR-20. Grüne Pfeile: Weg zum Refuge de Capannelle
Fazit Tag 6:
1) If (Anforderung des Weges == physische Stärke) { Glück = ja }
2) Wenn man denkt, es geht nicht schöner, pustet einem die Natur diese Flausen einfach so aus dem Kopf
3) Steinmänner, Elfenwälder, Sonnenspiele, Wasserglitzern und Gipfelwind. Mehr Fazit braucht es nicht.

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21 Oktober, 2013

GR-20 - Teil 5 - Haut-Asco nach Vizzavona


Als Gustav und ich im Hotel sitzen, am Abend von Tag vier, entscheide ich mich, nicht weiterzulaufen. Zumindest nicht im Norden. Der fünfte Tag hält nämlich eine besondere Überraschung bereit: den Cirque de Solitude. Das ist ein Herr-der-Ringe-tauglicher Talkessel mit 200 Höhenmeter Abstieg an Ketten und danach mehr als 200 wieder hoch, auch an Ketten. Ich denke: "äh, nö", stoße mit Gustav auf unsere gemeinsamen vier Tage an und wir gehen schlafen.

Hässliche Herberge, feine Aussicht
Am nächsten Morgen teilen wir alles an Essen auf, was Gustav bisher noch getragen hat und lassen auch viel extra Kohlenhydrate in der Hütte zurück: Nudeln, Cous Cous, ein paar YumYums. 

Rambo wäre stolz auf mich
Weil ich in den Süden fahren werde, zerschneiden wir den Reiseführer mit dem Messer, das ich in der Herberge gefunden habe. Es steckte im Holz des Fensterbretts und ich musste unwillkürlich denken, dass jemand das da mit einer gewissen Agression reingerammt hatte. Ich bekomme die Seiten für den Süden, Gustav die für den Norden. 

Aus eins mach zwei
Mein Plan ist es, jemanden im Hotel zu finden, der mich in Richtung Zivilisation mitfahren lässt. Gustav bringt mich zum Hotel und sagt: "Jetzt muss ich mir ja wieder Sorgen machen, wenn Du alleine läufst." Und ich alte Heulliese fange schon wieder an. Muss diese joblos bedingte Wurzellosigkeit sein oder so. Oder der Fakt, dass ich schon immer eine Heulliese war. Oder der Fakt, dass ich Gustav schon kenne, seit er geboren ist. Das mit dem Windelwechseln schreibe ich jetzt mal nicht hierher, sonst ist er pikiert.

"Aber ich fahre ja in den Süden," sage ich, "da ist es nicht gefährlich". Wir umarmen uns und ich gehe blinden Auges mit Mein Bester ins Hotelrestaurant. Dort bestelle ich mir, schniefend, und interessiert beäugt vom nicht so schlecht aussehenden Bartender einen Cappuccino und schaue aus dem Fenster. Schön ist es hier am Morgen, in diesem Hotel. Die Wände sind aus Holzvertäfelung, draußen sieht man die Berge.

Die Sonne scheint, es ist warm und ich bin in Sicherheit. Ich fange an, Tagebuch zu schreiben:

"Also. Ich habe vor dem Cirque de Solitude abgebrochen. Das war sicher auch besser so, das hätte ich nicht geschafft. Gustav ist allein weitergegangen. Das ist auch gut so. So hat er die Möglichkeit, in seinem Tempo zu laufen und ich auch."

Hotelterrasse in Haut-Asco
Ich schaue hoch, vor mir der Cappuccino und begegne dem Blick eines älteren Herrn, der mir freundlich zunickt. "Zumindest konnte ich mir gestern die Haare waschen", denke ich. Sonst sähe ich aus wie..., wie..., tja, wie jemand, der sich tagelang nicht wäscht. Wie ein stinkiger GR-20-Wanderer halt. Der Frühstücksraum leert sich und ich stehe auf, um mein Glück zu versuchen. Ich gehe zum Tisch des älteren Herrn. 

Best ride ever, thanks to Diana and Patrick
"Sorry, do you speak English?" sage ich zu ihm und seiner Frau. "We are English", sagt sie mit einem feinen Lächeln. Patrick, very nice to meet you, und Diana, seine Frau. Um die 65, Korsikaliebhaber seit den 70ern. Sie erzählen mir von ihren Wanderungen auf dem GR-20, with the boys. We have two sons, one of them tried to walk the GR-20 as well, a few years back. But he got into high winds and couldn't continue. "Like me", I say and tell them my story.

Patrick und Diana machen Platz in ihrem BMW, der vollgeräumt ist mit Reiseutensilien und fahren mit mir nach Ponte Leccia. Wo sie gar nicht hinmüssen. Sie müssen nach Calvi an der Westküste. Sie fahren mich 25 Kilometer nach Ponte Leccia, weil sie mich zum Zug bringen wollen. Talk about sweetness.

Im Auto reden wir über die Fremdenlegion, die in den 70ern die Straße gebaut hat, auf der wir fahren. Über die korsische Mafia, die es Ausländern nicht erlaubt, Häuser auf Korsika zu bauen. Über die beiden, die seit mehr als 20 Jahren in einem kleinen Dorf in Südfrankreich leben. Über meinen Nichtjob und die Medien. "Tough line of work", sagt Diana, ich nicke nur. 

Abwesend stelle ich fest, dass mein Ohr heiß ist. Das andere auch. Hm. Als ich es anfasse, stelle ich fest, dass ich gestochen wurde. Komisch, gestern waren doch gar keine Mücken auf dem Weg, denke ich, während ich immer alarmierter bemerke, dass nicht nur meine Ohren zerstochen sind, sondern auch mein Kinn (dreifach) und meine Wangen. 

Marieke, zerstochen und kleinlaut
Flöhe, denke ich. Bettwanzen, ach du Scheiße. Und ich sitze hier im Edel-BMW mit diesen herzensguten Menschen und vielleicht hinterlasse ich ja den Floh in deren Auto und was dann? Dann hab ich denen ihren Großmut aber ganz dumm heimgezahlt.

Ich frage mich, ob ich weiß, ob Flöhe von Menschen auf Autos überspringen, während meine Haut in einen milden Schockzustand abdriftet, eine kleine allergische Reaktion. Ich versuche, nicht zu kratzen.

Als wir in Ponte Leccia ankommen, laden die beiden mich noch auf einen café creme ein. Als Diana in der Bäckerei versucht, mein Baguette zu bezahlen, muss ich lachen. Ich fühle mich, als hätte ich auf einmal eine zweite Mama geerbt. "Thanks, but you've done so much for me already. I can get that," sage ich. Beim Abschied tauschen wir unsere Nummern aus.

Ich gehe mit Mein Bester zum Bahnhof und fahre mit dem Mittagszug nach Süden.

Mein Bester auf dem Weg nach Vizzavona

Fazit Tag 5:
1) The kindness of strangers is limitless.
2) Bed bugs DO bite.
3) Das Richtige tun ist manchmal langweiliger als das Falsche. Aber auch sicherer.

Willst du alles über Tag 6 auf dem GR-20 lesen? Dann klick hier!
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20 Oktober, 2013

GR-20 - Teil 4 - Carozzu nach Haut-Asco


"Ich weiß nicht, ob ich weitermache - ich bin völlig lädiert. Morgen mache ich noch. Und wenn ich feststelle, dass ich Superkräfte entwickle, mache ich sechs Tage. Wenn ich die nicht entwickle, dann fahr ich mit nem Bus oder per Anhalter von Haut-Asco entweder auf nen anderen Trail, wo ich mir nicht die Knochen breche oder wieder nach Bastia, nehm die Fähre nach Elba und lege diesen alten, untrainierten Körper an einen Strand."

Was ich dann auch machte, allerdings erst später
Wieder mal historische Worte aus dem Tagebuch der Mademoiselle Z. Als ich am dritten Trailtag aufstehe, kann ich kaum laufen. Diese vermaledeite Milchsäure, die irgendwie überall zu sein scheint, selbst in meinem Gehirn. Als wir um halb neun loslaufen, finde ich einen Wanderstock vor der Tür. Er ist präpariert, oben abgesägt und unten angespitzt. Ich bin entzückt.

Marieke & Mein Bester
Der Stock wird an diesem Tag mein bester Freund. Er ist leicht und stabil und glatt und schön anzufassen und stetig an meiner Seite. Besser als jeder Typ, scheint mir. Ich taufe ihn "Mein Bester" und lobe ihn konstant, unhörbar. Selten war ich einem Gegenstand so dankbar. Als wir loslaufen und meine Beine wieder anfangen, Klamauk machen zu wollen, stoppe ich sie. "Heute ist ein besserer Tag", sage ich, "ein Tag ohne Unsicherheit". Der Plan funktioniert erstaunlich gut. Die Granitplatten machen mir immer noch Angst, aber mit Mein Bester gehen sie viel besser.

Indiana Marieke
Die Brücke über den Spasimata-Bach erinnert an Kindheit und Action Filme aus den Achtzigern. Dann geht's ab in die wunderschöne Spasimata-Schlucht. Die Spasimata-Schlucht ist eins dieser Naturwunder, die sich der Fotografie entziehen. Deren Farbigkeit, Steilheit und Atemberaubenheit einfach nicht dem entsprechen, was man auf den Bildern sieht. In der Schlucht verdamme ich mich dafür, dass ich seit Jahren keine anständige kleine Kamera habe.


Die Farbigkeit der Steine auf diesem Weg ist wunderschön. Korsika ist überwältigend metallisch. Violette Felsen mit neongrünen Flecken wechseln sich ab mit blau und grün schimmerndem Gestein. Wenn die Sonne durchkommt, fängt die Landschaft an zu glitzern. Das Mädchenherz freut sich.

Auf dem Weg zur Spasimata-Schlucht
Spasimata, die Schöne im Morgenlicht
Psychedelischer Aufstieg aus der Spasimata-Schlucht

Wenn man Steinen Prächtigkeit zuschreiben könnte, stünde hier "Steinpracht"
Hoch also, wieder und immer wieder hoch, bis wir zum völlig unspektakulären Lac de la Muvrella kommen. Wenn man sich der Zivilisation entzieht, Wasser aus kristallklaren Bächen trinkt und eine gewisse Selbstverständlichkeit für das Pure dieses Lebens gewinnt, ist es immer ein mieser Rückschlag, den Dreck der Menschen zu sehen, wenn er wieder auftaucht. Bilbao auf dem Camino del Norte war so ein Rückschlag. Der Lac de la Muvrella ist nicht vergleichbar, aber er hat auf jeden Fall durch die Flut der sommerlichen GR-20 Besucher gelitten.

Ich mache kein Foto und steige den steilen Anstieg zur Bocca di a Muvrella hoch. Keuche mich hoch, besser gesagt. Oben gibt es eine Aussicht bis zum Meer und einen grinsenden Bruder, der zugibt, dass der Aufstieg ihn auch aus der Puste gebracht hat. Heute machen mich die Gipfel und der nahe Himmel glücklich. Man kann bis zum Meer sehen. Beste Laune der Natur, dass es Wanderwege gibt, die Berge und Meer gleichzeitig haben.

Mariekes heimlicher Angstgegner: die Granitplatten
Wir erklimmen die Bocca de Stagnu auf 2.010 Metern und sind fast enttäuscht, als wir kurz danach schon die Herberge von Haut-Asco im Tal sehen. Jetzt schon da oder was?

Da wohnt er wohl. #gott
Aber natürlich, wie kann es anders sein, unterschätzen wir den Abstieg, der 640 Höhenmeter runter geht. Und das höchst steile anderthalb Stunden. Ich werde wieder unsicher, auch mit Mein Bester. Nach ungefähr einer Stunde passiert es, ich rutsche in eine Felsspalte, mein Bein klemmt sich ein, verdreht sich. Durch die Leggings merke ich, wie der Stein meine Haut wegreißt. Ich schreie. Befreie mich wieder mit aller Kraft. Die Leggings wird warm am Bein, ich schaue nicht nach.

Langsam steigen Gustav und ich danach weiter ab, ich wieder zittrig und rutschig. Am Ende regnet es und ich habe zu wenig Augen für die riesigen Wurzeln der Pinien, die den Waldboden durchbrechen. Als wir in Haut-Asco ankommen, gibt es die Überraschung unseres Lebens: die hässlichste Herberge der Welt, aber warmes Wasser zum Duschen! Haut-Asco ist eine Skistation und es gibt außer der Herberge auch noch ein Hotel. Die Wahl, Nudelzeugs im Dunkeln mit Kopflampe (es gibt keinen Strom in der Herberge) im Kalten (es gab auch kein Holz) zu essen oder zum Hotel rüberzugehen, fällt sehr leicht.

"Asco" ist das spanische Wort für Ekel und verleiht dem Refuge de Haut-Asco genau den Unruhm, den es verdient. Speziell, wenn man bedenkt, dass es dort Bettwanzen oder Flöhe gibt und ich am nächsten Morgen mit 15 Stichen im Gesicht, Hals und Ohrläppchen aufwache. Wortwörtlich: Haut-Ekel.

Vermackte Beene in Haut-Ekel


Fazit Tag 4:
1) 15 blaue Flecken und mehrere Löcher im Bein, ich sehe aus, als wäre ich vermöbelt worden. Wurde ich auch. Von der Natur.
2) Gipfelglück ist ein sehr schönes Glück. So schön wie Wellenglück oder Liebesglück.
3) Die Mischung aus körperlicher Höchstpräsenz, der Natur und den Glücken sorgt dafür dass ich, das vermöbelte Wesen, ernsthaft darüber nachdenke, weiterzumachen. Ts.



Mehr von Gustavs und meinen Abenteuern an Tag 5 auf dem GR-20 könnt ihr hier lesen!


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19 Oktober, 2013

GR-20 - Teil 3 - Ortu di u Piobbu nach Carozzu

"Gut, dass wir noch leben. Meine Schulter tut weh." Mit diesen historischen Worten endet mein Tagebucheintrag vom ersten Wandertag auf dem GR-20. Als Gustav und ich am nächsten Tag aufwachen, ist es noch dunkel. Unsere Hüttenmitbewohner huschen lautlos durch den Raum, ihre Kopflampen flackern. Das Fenster ist beschlagen, draußen wird es langsam hell. Ich nehme die Ohrstöpsel raus und schäle mich aus dem Schlafsack.

Refuge de Ortu di u Piobbu
Unser erstes Müslifrühstück ist köstlich und ich bin dankbar für den Kaffee, den wir mitgenommen haben. Um acht Uhr gehen wir los, in Richtung der Quelle in der Nähe der Hütte, wo wir uns die Zähne putzen. Abwesend schaue ich mir im glasklaren Wasser die Nudelreste vom Abwasch der anderen an und fühle mich schuldig, als ich Zahnpasta auf einen großen Felsen unterhalb der Quelle spucke. Als hätte ich eine Umweltsünde begangen. An der Quelle begegnet uns das französische Pärchen, sie kommen aus Gehrichtung und wir fragen, ob sie etwas vergessen haben. Nein, sie haben sich entschieden, bei der Hütte zu bleiben. Die Frau zuckt verlegen die Schultern. Sie hat Angst, weiterzulaufen, sagt sie. Sie ist nicht fit genug. Wir gehen los, ich denke darüber nach, dass ich fand, dass sie schon fit aussah. Fitter als ich.

Wir fangen bei Ortu di u Piobbu auf 1.250 Metern an und kraxeln aufwärts. Ich habe Angst, über die großen Granitplatten aufrecht zu gehen. Gustav nicht, er läuft leichtfüßig und schnell über die Riesenfelsen.

GGG - Gipfelgemse Gus
Es ist erstaunlich, wieviel Kopfsache dieser Weg ist. Dieser Weg, der kein Weg ist, sondern das Durchqueren einer Bergkette, mehr oder weniger linear. Nach fünf Stunden kommen wir zu einem Stück Weg, das man aufrecht gehend gehen kann, ohne weitere Hindernisse. Wir lachen. Es ist circa 20 Meter lang, dann geht es weiter mit der Kletterei.

Der "Weg" ist ein reines Entscheidungen treffen. Bei jedem Schritt frage ich mich, wohin ich den Fuß setze. Bei jeder Granitplatte, ob ich ausrutsche. Bei jeder Kletterei, wohin mit den Fingern. Ich gebe meinem Körper unendlich viele Befehle. Fuß aufstellen, Gewicht verlagern (die 15 Kilo auf dem Rücken helfen nicht wirklich), hoch mit dem gesamten Gewicht auf den Felsvorsprung, KRAFT, ihr dummen Oberschenkelmuskeln! Abstützen auf dem dummen Bein, das sagt, sorry, hab keine Kraft, und hoch da. Und das war genau ein Schritt.
Bocca Piccaia, 1.950 Meter 
An diesem Tag mache ich sehr viele Fehler. Ich habe kein Gleichgewicht. Eine ganz fatale Sache. Ich habe keine Zuversicht in meine Entscheidungen. Ich stütze mich falsch ab, ich rutsche aus, ich fasse mit den bloßen Händen in scharfe Vorsprünge. Ich laufe auf allen vieren Berge hoch. Beim ersten Gipfel auf 2.020 Metern Höhe fühle ich keinen Triumph. Nur Angst, dass ich den ganzen Mist jetzt auch wieder runter muss.

Cirque de Bonifatu

Eine Angst, die auch völlig gerechtfertigt ist, denn ich muss den ganzen Mist ja wieder runter. Obwohl ich eigentlich schwindelfrei bin und auch keine Höhenangst habe, ist die Mischung aus körperlicher Schwäche und den sehr präsenten Abgründen, die ungesichert neben mir liegen, lähmend. Und dann fange ich an, wirkliche Fehler zu machen. Mit Gustavs Hilfe steige ich durch eine enge, drei Meter hohe Felsspalte, setze einen Fuß falsch und rutsche ab. Mein gesamtes Gewicht hängt an meinen Händen, ich versuche mich hochzuziehen. Mit aller Kraft winkle ich mein Bein wieder an, setze den Fuß richtig. Gustav blafft mich an, ich solle ordentlich greifen. Ich zwänge mich hoch, blaffe ihn auch an und sage ihm, er soll mich allein gehen lassen. Gustav läuft vor, ich fange an, zu weinen.
Bocca di L'Innominata, 1.912 Meter
Teil unseres Familiencharmes ist es, perfektionistisch zu sein. Und ungeduldig zu werden, wenn was nicht so gut klappt, wie wir uns das vorstellen. "Ungeduldig" ist hier auf jeden Fall als Euphemismus zu verstehen. Ich bin das auch. Nur bin ich ja jetzt diejenige, bei der das hier gerade "nicht so gut" klappt. Ich wische mir die Tränen ab, schniefe sportlich in die Berglandschaft und schließe auf.

Leider wird danach nichts besser. Hinter der Bocca di L'Innominata stütze ich mich auf einem Felsen ab, der leider nicht fix ist. Er dreht sich und fällt auf mein Handgelenk. Sofort bildet sich ein Riesenei und ich hoffe, dass nichts gebrochen ist. Adrenalin schießt durch meinen Körper, ich fange schon wieder an zu heulen. Gustav hilft mir auf, packt die Rucksäcke um (jetzt habe ich lächerliche 6 Kilo oder so) und wir schlittern über die riesigen Geröllhalden in Richtung Refuge de Carozzu. Mein ganzer  Körper zittert und ich rutsche noch mehrfach im lockeren Gestein aus.

Der Arsch von Felsen, der auf meinen Arm fiel. Es ist der in der Mitte.
 Als wir nach einer weiteren Stunde das Refuge de Carozzu erreichen, umarmt mich mein Bruder. "Hätte nicht gedacht, dass du das schaffst", sagt er. Ich hab schon wieder Pipi in den Augen und wir gehen in die wunderschöne Hütte.

Aussicht vom Carozzu-Balkon
Refuge de Carozzu
Refuge de Carozzu
Marieke versus Arsch von Stein: nix gebrochen

Fazit Tag 3:
1) Die Natur ist schöner als die Zivilisation. Älter, faltiger, mächtiger, wirklicher. Und viel schöner. 
2) Stärke ist nur bedingt physisch.
3) Ein Arm bricht nicht so schnell.
4) Man sollte in Notfallsituationen immer einen Bruder dabei haben. 

Tag 4 auf dem GR-20! Hier weiterlesen!
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18 Oktober, 2013

GR-20 - Teil 2 - von Fastgestorben nach Ortu di u Piobbu

Und dann stehen wir in Calenzana vor der schönen Kirche. Es ist 10 Uhr morgens, klar und kühl. Das Trampen von Calvi hat super geklappt und believe it or not, es geht los. Wir laufen durch die Straßen von Calenzana, Gustav schnell, ich langsam und folgen den rotweißen Markierungen bis zum Ortsausgang.

Venceremos!
Der Weg ist schön und steil, wir verlassen die Zivilisation, durchqueren Wälder und essen Mittag auf der Bocca a u Saltu in 1.250 Metern Höhe.

Tag der ersten Male - unsere erste Kette

Bocca a u Saltu, 1.250 Meter
Mittag im Nebel
Das Wetter wechselt, es wird neblig-nass. Die Sichtweite ist beeinträchtigt, am Capu Giovu sehen wir nicht viel von der spektakulären Aussicht.

Follow the leader... Äh, nee, the rot-weiße Markierung
Um 15 Uhr fängt es an, zu regnen. Dann setzt der Donner ein und Gustav und ich sind auf einmal in genau so einem Gewitter, vor dem überall gewarnt wurde. Der Regen wird stärker, es wird kalt, Blitze erhellen den grauen Himmel. Wir nähern uns dem Zentrum des Unwetters, das zwischen zwei Berggipfeln hängt und nicht abzieht. Als wir völlig durchnässt zugeben müssen, dass wir nicht weiter können, suchen wir uns einen Unterschlupf am Bergrand. Ich baue mir einen Kokon aus meiner Isomatte, die den Großteil des Regens abhält. Wir warten.

Ich habe keine Angst. Gustav ist ja bei mir. Als die Blitze allerdings anfangen, im Tal unter unserem Unterschlupf einzuschlagen, denke ich, dass ich lieber nicht heute sterben würde. Danke.

Im Gewitter gefangen - die Isomatte als Lebensretter
Wir warten 90 Minuten, zählen die Entfernung zwischen den Blitzen und dem Donner, denken und reden wenig. Bei Gustav setzt die Unterkühlung zuerst ein, er zittert. Ich bewundere in diesem Sturzbach unter den Bäumen erneut meine Wanderstiefel, die erstaunlicherweise meine Füße immer noch trocken und warm halten.

Als auch ich ausgekühlt bin und wir beide der Meinung sind, dass es sicher genug ist, weiter zu laufen, stehen wir auf. Unsere Beine sind steif und eiskalt. Wir schütteln Wasser, Erde und Tannennadeln ab, packen unsere Rucksäcke im Regen. Ich ziehe mir einen Regenponcho aus Plastikfolie an, mein heimlicher Liebling auf Wanderungen. Sieht doof aus, hält aber trockener als die meiste Funktionskleidung. Und jetzt hält er auch die Körperwärme drin. Wir laufen los. Nach zwanzig Minuten müssen wir noch einmal unseren Mut beweisen, und bei Blitzschlag über die Kuppe der Bocca a u Bassiguellu rennen.

Auf den restlichen Kilometern bis zum Refuge werden wir eins mit dem Regen. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen oben und unten, innen und außen, man ist einfach überall so nass, als schwämme man. Und so schwimmen Gustav und ich noch leichte Abstiege hinunter, über Steine und durch einen Wald, der auf, unter und neben uns tropft. Als wir plötzlich oberhalb der Hütte ankommen, schreien wir vor Glück.

Oh, Ortu di u Piobbu, du sicherer Hafen im Sturm! 
Wir stolpern in die Hütte, ziehen uns sofort aus und um und machen uns eine heiße Suppe und Tee. Außer uns sind noch acht weitere Menschen da, die meisten Pärchen. Wie man sich freuen kann, wenn jemand vor einem schon den Ofen angeheizt hat! Gustav und ich hängen unsere völlig durchnässten Klamotten auf, als auf einmal die schon erwähnte Französin hereinstolpert, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch ist. Vermutlich hatte sie im Gewitter keinen Bruder dabei, der ihr ein ruhiges Herz gegeben hat. Nachdem sie von den anderen versorgt wurde und im Schlafsack vor dem Ofen sitzt, wird es langsam Zeit, schlafen zu gehen. 

Überlebt. Darauf ein leckeres YumYum-Süppchen mit Stinkekäse
 

Fazit Tag 2:

1) Die Natur ist stärker als du.
2) Demut ist dein Freund. Lieber spät dran als tot.
3) Ich kann noch weiter, auch wenn ich kein Gefühl mehr für meinen Körper habe und fast schon halluziniere, dass ich durch den Regen schwimme.
4) Man sollte immer einen Bruder in Notfallsituationen dabei haben.

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